Neurodiversität: krank – oder nur “anders”?
Glaubt man einer Statistik, die auf der Webseite eines großen deutschen Optikers zu finden ist, haben 90 Prozent der Weltbevölkerung braune Augen. Trotz der großen Beliebtheit von blauen Augen, weist die Iris nur bei acht Prozent aller Menschen diese Färbung auf. Grüne Augen sind derweil sehr rar: nur bei zwei Prozent der Menschheit kann man diese finden. Würde man daraus tatsächlich schlussfolgern, dass nur braune Augen “normal” seien, da diese Variante am häufigsten vorkommt? Und grüne Auge irgendwie falsch? Oder am Ende blaue Augen die beste Variante, weil die ja am beliebtesten sind? Moment! Das mit den blauen Augen (und blonden Haaren) hatten wir schon mal in der deutschen Geschichte – und das hat kein gutes Ende genommen.
Während wir uns also in Bezug auf die Augenfarbe einig sind, dass die Unterschiedlichkeit okay ist, und auch im Hinblick auf das Zusammenleben verschiedener Nationalitäten Varietäten ein toller Gewinn für alle sind, so sehen viele Medizinerinnen und Mediziner bei neurologischen Unterschieden, die das Denken, Lernen und Verhalten beeinflussen, oft eine Krankheit. Aber ist das Abweichen von der Norm nicht auch nur eine Andersartigkeit, ohne gleich als Defizit oder Störung gelten zu müssen? Dies zumindest behauptet das Konzept der Neurodiversität - ein Konzept, das zwar immer mehr Befürworter*innen findet, aber dennoch nicht ganz unumstritten ist.
These: Die natürliche Verschiedenartigkeit
Neurodiversität bezeichnet die natürliche Vielfalt neurologischer Strukturen und Funktionen im menschlichen Gehirn. Mit dieser Definition werden das Verständnis für und die Akzeptanz von vermeintlichen Störungen gefördert. Zu den sogenannten Störungen, die ins Spektrum der Neurodiversität fallen, gehören: Autismus, ADHS, Dyskalkulie, Dyslexie, Dyspraxie, Synästhesie, bipolare Störung und Hochbegabung. Es wird so ein Bewusstsein für die Andersartigkeit dieser Personengruppen geschaffen und deren Inklusion gefördert - während deren Wesen und Verhalten nicht einfach als fremdartig oder gar krank abgestempelt wird.
Diese Strömung in der Wissenschaft konzentriert sich weniger auf die Defizite, sondern vielmehr auf die Stärken der betroffenen Menschen. Und die gibt es in der Tat: Neurodivergente Menschen bringen oft besondere Fähigkeiten und Perspektiven mit sich, die für Innovation und Kreativität wertvoll sind. Personen mit Asperger-Autismus weisen beispielsweise häufig Inselbegabungen auf und können sich gut auf eine spezielle, wiederkehrende Aufgabe konzentrieren. Hochbegabte finden unkonventionelle Lösungswege, auf die der “Otto-Normal-Bürger” oder die “Otto-Normal-Bürgerin” nicht kommen würde.
Daher bleibt die Frage: Was ist die “Norm” - und wer bestimmt sie? Anhänger*innen des Konzepts der Neurodiversität sehen Abweichungen von der gesellschaftlich definierten “Norm” lediglich als Erscheinungsformen sozialer Vielfalt – ebenso wie Geschlecht, Ethnie, sexuelle Orientierung, Behinderung oder andere Vielfaltsdimensionen.
Antithese: Der pathologische Ansatz
Viele Mediziner*innen hingegen betrachten neurodivergente Zustände wie Autismus, ADHS und Dyslexie als Störungen, die durch Abweichungen von der normativen neurologischen Funktion gekennzeichnet sind. Sie argumentieren, dass diese Zustände oft mit signifikanten Beeinträchtigungen im täglichen Leben einhergehen – etwa Kommunikationsschwierigkeiten, Aufmerksamkeitsdefizite und Lernschwierigkeiten.
Kritikerinnen und Kritiker des Neurodiversitätskonzepts betonen, dass viele neurodivergente Zustände die Lebensqualität der Betroffenen erheblich mindern können. Sie weisen darauf hin, dass Menschen mit schweren Formen von Autismus oder ADHS oft intensive Unterstützung benötigen und ihre Fähigkeit, ein selbstständiges Leben zu führen, eingeschränkt sein kann.
Aus medizinischer Sicht ist es daher wichtig, neurodivergente Zustände zu diagnostizieren und zu behandeln, um die Symptome zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern. Therapien und medikamentöse Behandlungen können helfen, die Herausforderungen, die mit diesen Zuständen einhergehen, zu bewältigen. Somit könne man den Betroffenen ein besseres Leben ermöglichen.
Einige Mediziner*innen vergleichen neurodivergente Zustände mit physischen Krankheiten wie Diabetes oder Krebs. Genauso wie physische Krankheiten müssten diese behandelt werden, um die Gesundheit der Patient*innen zu verbessern. Ihrer Meinung nach erforderten auch neurologische Störungen medizinische Interventionen, um die neurologische Gesundheit und Funktion zu optimieren.
Synthese: Die Gesellschaftskritik
Es ist leider eine Tatsache, dass neurodivergente Personen oft vor gesellschaftlichen Barrieren und Vorurteilen stehen, die ihren Alltag erschweren. In einer globalisierten und stark bevölkerten Welt spielt soziale Interaktion eine wichtige Rolle. Autistische Menschen jedoch sind damit oft überfordert. Ebenso haben es Menschen mit einer Leseschwäche schwer in unserer modernen Gesellschaft, in der die Kommunikation, beispielsweise mit Behörden, in erster Linie auf schriftlichem Wege erfolgt. Für diese Personen ist der Alltag oft nicht leicht zu bewältigen.
Aber könnte man die Argumentation nicht auch umdrehen: Vielleicht ist es die Gesellschaft, die sich an Menschen mit speziellen Bedürfnissen anpassen müsste? Aglaia Dane, Deutschlandfunk-Nova-Reporterin, stellt fest: "Die Probleme für Menschen mit ADHS sind nicht nur auf die eigene Impulsivität oder Zerstreutheit zurückzuführen, sondern auch auf den modernen Lebensstil." In ihrer Reportage schildert sie die Ergebnisse einer Studie der University of Pennsylvania, die zeigte, dass Menschen mit ADHS-Symptome wie Impulsivität und Unruhe vor Tausenden von Jahren, als die meisten Menschen nomadisch lebten, evolutionäre Vorteile hatten.
Um mit dem Evolutionsforscher Charles Darwin abzuschließen: Es überlebt, wer sich am besten anpasst - aber welche neurologische Disposition muss man dazu in der heutigen Welt haben?
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